Urban Fantasy gilt als relativ neue literarische Sub-Gattung, wenn auch als eine durchaus beliebte, was man allein daran sehen kann, dass ihr prominentester Vertreter – Neil Gaiman – einer der vielleicht populärsten lebenden Schriftsteller überhaupt ist. Doch ganz so neu ist sie dann doch nicht, die Urban Fantasy, und in der Tat stammt eines ihrer frühen Beispiele von einem den man normalerweise eher mit klassischer Sword ’n’ Sorcery in Verbindung bringt. Die Rede ist natürlich von Fritz Leiber, dem Schöpfer von Fafhred und dem Grauen Mausling. Passt das zusammen? Sicher, die beiden sympathischen Halunken tummeln sich gerne in Lankhmar, doch diese Stadt war ein pures Phantasiegebilde ohne Bezug zur realen Welt. Was brachte Fritz Leiber nun dazu, einen Roman vor einem (fast) realen Hintergrund anzusiedeln?
Zu Anfang der 1970er Jahre hatte der Begründer des Sword ’n’ Sorcery-Genres schlechte Zeiten durchgemacht. Der Tod seiner Frau stürzte ihn in Depressionen; Alkoholsucht und finanzielle Schwierigkeiten folgten. Leiber jedoch schaffte schließlich nicht nur den Ausstieg aus der Sucht, es gelang ihm auch diese Zeit zu einem seiner – wie viele meinen – stärksten Romane zu verarbeiten: Our Lady of Darkness (Die Herrin der Finsternis)
Der Roman beschreibt einige Tage im Leben von Franz Westen. Westen, ein nur oberflächlich kaschiertes Alter Ego Fritz Leibers, ist Autor von Fantasy- und Horrorgeschichten. Er lebt in San Francisco in bescheidenen Verhältnissen in einem Ein-Zimmer-Apartment und hält sich vor allem mit der Lohnschreiberei für eine Gruselserie über Wasser. Er ist Alkoholiker, doch seit etwa einem Jahr trocken. Zwar belastet ihn der einige Jahre zurückliegende Krebstod seiner Frau nach wie vor, doch schildert Leiber Westens Leben keinesfalls nur grau und deprimierend. Im Gegenteil, zu Beginn des Romans präsentiert sich uns ein Protagonist, der gerade wieder zu leben beginnt, in bescheidenen Verhältnissen zwar, doch mit Freunden in seinem Umfeld und insgesamt durchaus zufrieden.
Franz Westen hat es sich zur Gewohnheit gemacht, seine Umwelt genau zu beobachten, mit allen Sinnen aufzunehmen, einerseits um Eindrücke für sein schriftstellerisches Handwerk zu sammeln, andererseits als therapeutischen Akt, als bewussten Gegenpol zum Stumpfsinn des Suffs.
Eines Morgens betrachtet er einen der Hügel San Francisco durch sein Fernglas und sieht auf dessen felsiger Kuppe undeutlich eine Gestalt, die eine Art Ritual auszuführen scheint. Nur ein verrückter Hippie? Im weiteren Verlauf des Tages beschließt Westen, den Hügel zu erklimmen. Oben angekommen blickt er wiederum durch sein Fernglas, diesmal auf der Suche nach seinem eigenen Apartment. In seinem Fenster erblickt er nun eben jene Gestalt, die er wenige Stunden zuvor auf der Hügelkuppe gesehen hatte, und als sei das nicht bereits unheimlich genug, scheint ihm die Gestalt auch noch zuzuwinken. Westens Neugierde ist geweckt, doch diese wandelt sich langsam in Angst, als er einen Zusammenhang der Erscheinung mit zwei Büchern zu erkennen beginnt, die er Jahre zuvor alkoholisiert in einem Antiquariat als Paket erstanden und bis vor kurzem vergessen hatte. Bei dem ersten der beiden handelt es sich um einen obskuren Band okkulten Wissens Megapolisomancy verfasst von einem gewissen Thibaut De Castries, einer Art Schmalspur Aleister Crowley, der um die Jahrhundertwende in San Francisco gelebt und eine kleine, aber erlesene Gruppe von Jüngern um sich geschart hatte, darunter die Schriftsteller Jack London und Ambrose Bierce.
Der zweite Band, der verschnürt mit dem ersten verkauft worden war, ist eine Art Tagebuch, das Westen bald Clark Ashton Smith zuordnen kann, jenem dunklen Poeten und Freund H.P. Lovecrafts, der offensichtlich für eine Weile mit dem gealterten De Castries verkehrte und dessen Theorien förmlich aufsaugte. Der fiktive De Castries vertrat die These, und davon handelt sein Buch, das große Städte, insbesondere die modernen, mit ihren gewaltigen Gebäuden aus Stahl und der damals neuen Elektrizität eine Art kritischer Masse erreichen, welche zum Auftreten übersinnlicher Phänomene führt: „Why shouldn’t a modern city have its special ghosts, like castles and graveyards and big old manor houses once had?“
Beinahe wie de Castries Schüler 70 Jahre vor ihm ist Westen fasziniert von diesen Ideen und will mehr über ihren Autor erfahren. Im Zuge seiner Nachforschungen erfährt er jedoch nicht nur mehr über den alten Magier, sondern muss auch feststellen, dass dieser einen Fluch gewirkt hat, der über seinen Tod hinauswirken könnte. Die geheimnisvolle Gestalt, die Westen beobachten konnte, scheint unmittelbar damit zusammen zu hängen. Plötzlich ist die vertraute Stadt in der er lebt ein okkultes System, geheimnisvoll und bedrohlich.
Dabei ist zumindest anfangs nie ganz klar, wieviel sich dabei in Franz Westens Kopf abspielt und wie viel tatsächlich übersinnliche Phänomenen geschuldet ist, wobei der Roman hier ganz offen die Frage stellt, welchen Unterschied das überhaupt macht.
Sehr viel Handlung gibt es nicht, doch die zahlreichen eingestreuten kleinen Geschichten, die Beobachtungen der bunt gemischten Truppe aus Nebenfiguren, die Philosophierereien machen das Lesen zum Genuss und lassen den Roman ebenso frisch wirken wie bei seinem Erscheinen. Dabei wirft Leiber haufenweise mit mal mehr und mal weniger offensichtlichen Anspielungen und Referenzen auf Autoren und deren Werke um sich, was dem Roman eine charmante Pseudo-Authentizität gibt und wiederum, neben der Haupthandlung und der ganz offensichtlich autobiographischen Vergangenheitsbewältigung des Autors, dem Leser eine weitere Dimension eröffnet. Auch wenn es zum Verständnis des Romans nicht unbedingt notwendig ist, alle Referenzen auf Jack London und Ambrose Bierce, auf Lovecraft und Clark Ashton Smith (und sogar Leiber selbst) zu verstehen, so erhöht es doch das Lesevergnügen. So, wie Our Lady of Darkness das Werk eines reiferen Autors ist, hat auch der erfahrene Leser, der schon einiges gelesen hat, eine größere Freude daran. All dies wirkt dabei nicht aufgesetzt und überbordend oder gar schwerfällig. Im Gegenteil, trotz der düsteren Geschichte versprüht der Roman eine gewisse Leichtigkeit und, ja, auch eine positive Grundhaltung, die es zu einer Freude machen, das kurze Buch »in einem Rutsch« zu lesen. Allerdings will man dabei ständig zu Papier und Stift greifen, und doch noch den ein oder anderen interessanten und unbekannten Verweis festzuhalten, um ihm später zu recherchieren. Dadurch gelingt es Leiber mindestens genauso viel Tiefe, wenn nicht mehr, in diesen schmalen Band zu packen (220 großzügig gesetzte Seiten in der amerikanischen Taschenbuchausgabe), als es so manchem seiner modernen Kollegen in mehrhundertseitigen Wälzern gelingt. Dabei ist man als Leser zu keinem Moment gelangweilt. Eine klare Empfehlung also, für den nächsten Griff ins Klassikerregal! Umso trauriger ist es, dass dieser Roman anscheinend nur eine einzige deutsche Ausgabe erlebte und zurzeit in dieser Sprache nur antiquarisch erhältlich ist.
Englischsprachige Ausgabe:
Our Lady of Darkness
von Fritz Leiber
erstmals erschienen 1978
die vorliegende US-Ausgabe erschien 2010 bei Tom Doherty Associates
Umfang 220 Seiten
ISBN: 9780765324078
Deutschsprachige Ausgabe:
Herrin der Dunkelheit
von Fritz Leiber
übersetzt von Hans Maeter
erschienen 1980 bei Heyne
ISBN: 3-453-30676-7